Thursday, February 09, 2006

Der Becher in der Hand


Die Proteste in der islamischen Welt von jörn schulz

Die Skandinavier seien gottlose Leute, »schier wie Bestien«, urteilt Ahmed Ibn Fadlan. Es komme sogar vor, dass sie ihren sexuellen Trieben in der Öffentlichkeit nachgehen, »der eine vor den Augen des anderen«. Ihre Habsucht sei ebenso unermesslich wie ihre Gier nach Schweinefleisch, und sie konsumieren »Tag und Nacht« alkolholische Getränke: »Oft genug geschieht es, dass einer von ihnen mit dem Becher in der Hand stirbt.«
Ibn Fadlan, der die Sitten der Barbaren aus dem Norden in den Jahren 921 und 922 erkundete, empfahl nicht, den Import von Pelzen und Sklavinnen einzustellen. Im Bewusstsein, einer höheren Zivilisation anzugehören, betrachteten gebildete Araber die Wikinger mit der Gelassenheit des kolonialen Ethnologen, der die bizarren Bräuche einer Stammesgesellschaft untersucht.
Wenn ähnliche Vorwürfe mehr als 1 000 Jahre später mit deutlich geringerer Gelassenheit erhoben werden, liegt das nicht zuletzt daran, dass die Machtverhältnisse sich geändert haben. Die Karikaturen werden als Teil des Kulturkriegs einer materiell überlegenen, aber unmoralischen Zivilisation betrachtet, die sexuelle Freizügigkeit, Alkohol, Gottlosigkeit und andere sündhafte Dinge verbreitet.
Hinter den Protesten verbirgt sich einerseits der Versuch, die Autoritätsverhältnisse in Staat und Familie auch im globalisierten Kapitalismus zu erhalten. Da keine islamische Regierung und auch keine islamistische Bewegung die Weltmarktintegration oder gar den Kapitalismus in Frage stellen will, muss die Bedrohung als kultureller Angriff von außen definiert werden. Ihr wird das Bild einer »islamischen Gemeinschaft« (Umma) entgegengestellt, in der das Heilige noch heilig ist.
Dass viele Muslime sich dieser Umma noch zugehörig fühlen, zeigen die von Regierungen und Islamisten gesteuerten Mobilisierungen in zahlreichen islamischen Ländern. Wer auf die Straße geht, muss darauf vertrauen, dass der zuständige Patriarch, ob Präsident, Imam oder islamistischer Agitator, ihn korrekt informiert hat, denn gezeigt werden dürfen die blasphemischen Karikaturen ja nicht. Doch nur in wenigen Orten wie dem jemenitischen Sana’a überstieg die Zahl der Demonstranten einige Tausend. Von einem »Aufstand der islamischen Welt« kann da noch nicht die Rede sein.
Die Proteste sind auch ein Versuch, mehr Macht in einer multipolaren Welt zu gewinnen. Saudische Prinzen, die sich als Opfer der westlichen Unterdrückung darstellen, sind in Wahrheit einflussreiche global players. Die Boykottpolitik islamischer Staaten ist ein erfolgreiches Mittel des Protestes, insbesondere die westlichen Unternehmerverbände drängen nun auf »Mäßigung«. Doch auch die Politiker der libanesischen Hizbollah, die in der Regierung vertreten sind und über ein Imperium von Unternehmen und Sozialeinrichtungen gebieten, sind nicht unbedingt die »Verdammten dieser Erde«.
Den Regierungen geht es um den Erhalt ihrer Legitimation als »Hüter des Islam«, die ihnen in dem nun einsetzenden Wettlauf um street credibility die islamistischen Oppositionellen streitig machen. Beiden geht es darum, auf globaler Ebene die Kritik am Islam zu unterbinden. Dabei haben sie schon beträchtliche Erfolge erzielt, denn der Islam wird weit vorsichtiger behandelt als das Christentum. Deshalb ist die Kampagne gefährlich, zumal sie von Geistlichen und Politikern anderer Religionen unterstützt wird, die die Schonung des Islam voller Neid betrachten. Die gesellschaftlichen Folgen der kapitalistischen Globalisierung kann sie jedoch nicht aufhalten. Auch saudische Prinzen sterben manchmal mit dem Becher in der Hand.

jungle-world.com

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