Monday, May 27, 2013

Arbeit am Glück

Dass sich das Programm der Kompetenzideologen anschickt, mit staatlicher Unterstützung sowohl die Universitäts- als auch die Lehramtsseminare zu verlassen und zur Praxis zu drängen, zeigt ein Beispiel aus dem Südwesten der Republik. Die Heidelberger Willy-Hellpach-Schule, ein öffentliches Wirtschaftsgymnasium mit angegliederter Berufsfach- und Berufsschule, bietet seit 2007 ein Wahlpflichtfach an, dessen Einführung den wohl konsequentesten Umsetzungsversuch des von der Kompetenzdidaktik geforderten Wandels darstellt, der bis dato an einer staatlichen Schule in der Bundesrepublik unternommen wurde. Das Schulfach heißt„Glück“ und wird seit Einführung durch den mittlerweile pensionierten Schulleiter Ernst Fritz-Schubert, sekundiert von einem anhaltend positiven Medienecho, mittlerweile an insgesamt mehr als 100 Schulen in der Bundesrepublik und Österreich unterrichtet. (1)
Soziale Verantwortung statt Ich
Die Zielbestimmung des Fachs ist ein erschreckendes Indiz dafür, dass der Kompetenzfetisch der Pädagogen keine Grenzen und Skrupel mehr kennt. Konnten Schüler in der Vergangenheit noch erwarten, dass sie bei regelmäßiger Teilnahme am Unterricht und zufriedenstellenden Leistungen von ihren Lehrern halbwegs in Ruhe gelassen wurden, kündigt sich mit dem Schulfach Glück eine neue Epoche an. In ihr stehen nicht mehr Wissenserwerb und das Erlangen formaler Bildungsabschlüsse im Mittelpunkt, sondern die Schüler sollen in der Schule„endlich mit Freude leben lernen“ (Fritz-Schubert: 93) und „Lebenskompetenz [!]“ (ebd., 165) erwerben. „Glück ist erlernbar“ (ebd., 46) behauptet der Erfinder des Fachs und erläutert auch, was man sich unter dem Glück vorzustellen hat, das die Schule als Lernziel festlegt: „Glück empfinden kann […] ein dauerhaftes Gefühl des Wohlbefindens sein. In diesem Zusammenhang sprechen wir dann von‚Lebensglück‘. Bei rationaler kognitiver Betrachtung ergibt sich daraus‚Lebenszufriedenheit‘. Wenn die Schule nicht nur der Lebenszufriedenheit, also der kognitiven, rationalen Betrachtung Raum gibt, sondern wegen seiner besonderen Bedeutung auch den affektiven Bereich des längerfristigen Wohlbefindens Lebensglück einbezieht, nähern wir uns dem Fach ‚Glück‘ in der Schule. Es beschreibt dann die Unterstützung des einzelnen und der Gemeinschaft beim Streben nach Glück.“ (ebd., 48 f.) An dieser Stelle lohnt es sich innezuhalten, um die ersten vier, wahrscheinlich sehr mühevoll zu Papier gebrachten Sätze des Zitats vom Fritz-Schubertschen ins Deutsche zu übersetzen: 1. Glück kann ein Gefühl andauernden Wohlbefindens sein. 2. Man könnte auch Lebensglück dazu sagen. 3. Wenn man aber genau darüber nachdenkt, müsste das Gefühl andauernden Wohlbefindens eigentlich nicht Glück, sondern Zufriedenheit heißen. 4. Die Schule soll sich jedoch nicht weiter um die richtige Verwendung von Begriffen scheren, sondern lieber Raum für Gefühle lassen, weil Gefühle wichtig sind, denn dann kann Glück als Schulfach unterrichtet werden. Es kann durchaus vorkommen, dass die Sprache mit einem durchgeht, wenn man Begriffe nach pädagogischem Maß zurechtstutzen will. Viel wichtiger als Fritz-Schuberts sprachliche Verrenkungen bei der pädagogischen Verwurstung des Glücksbegriffs ist jedoch der fünfte Satz des Zitats, der mit der Rede von der Gemeinschaft den Verrat am Glück ankündigt.
Die bedingungslose Parteinahme für die Gemeinschaft führt Fritz-Schuberts Beteuerung, es gehe ihm um das Glück seiner Schüler und darum, sie zu befähigen, „furchtlos und angstfrei“ (ebd., 33) durchs Leben zu gehen, ad absurdum. Zwar widmet er dem Thema Schulangst mit der Überschrift Ängste fressen Kinderseelen (ebd., 27) ein ganzes Kapitel. Auffällig ist jedoch ein blinder Fleck bei seinen Versuchen, die Ursachen für den Seelenfraß zu ergründen. Er spricht zwar viel von Leistungsdruck und„schulischen Versagensängsten“ (ebd., 29). Die nachprüfbare Tatsache jedoch, dass ein erheblicher Teil schulischer Ängste auf konkrete Gewalterfahrungen mit Mitschülern zurückzuführen ist, bleibt unerwähnt. Das Wort Mobbing sucht man in seinem Pamphlet vergeblich, was bei einer mehr als 30-jährigen Berufserfahrung als Lehrer von einer erschreckenden Erfahrungsresistenz zeugt. Gewalttätige Schüler lassen in der glücklichen Welt Fritz-Schuberts nur etwas Dampf ab und reagieren auf die schulischen Leistungsanforderungen „mit dem Ventil der Aggression“: „Dieser Hass ist oftmals nichts anderes als Leidensdruck aus der subjektiv empfundenen Furcht heraus, für falsche Antworten und schlechte Leistungen ausgegrenzt, verspottet und verlacht zu werden“ (ebd., 32). Mit der empirisch haltlosen Behauptung, diese seien hauptsächlich von Angst und mangelndem Selbstvertrauen getrieben, macht Fritz-Schubert nicht nur die Schläger und Bullies zu bemitleidenswerten Opfern und verharmlost die tagtägliche Schulhoftyrannei. (2) Seine mechanistische Dampfkesseltheorie hilft ihm auch, die gruppendynamischen Gründe des Mobbings zu ignorieren, stehen sie doch im Widerspruch zu seinem Gemeinschaftskult. Weder will noch kann er sehen, dass ein erheblicher Teil des Leidens der Schüler gerade von denen verursacht wird, die als Führer der von ihm verklärten und zum Vorbild erhobenen„intakte(n) Klassen- bzw. Schülergemeinschaft“ (ebd., 166) bestimmen, wer zum sozialen Abschuss durch die Clique freigegeben wird – jener Klassenclique, die im Schikanieren des Opfers überhaupt erst zu sich selbst findet.
Statt also die Sorgen und Nöte der Schüler zu erkennen, was die Konsequenz nach sich zöge, sie dabei zu unterstützen, sich als Einzelpersonen gegen Gruppen und den von ihnen ausgehenden Konformitätszwang zu behaupten, verordnet Fritz-Schubert den betroffenen Schülern jenes Gift, das ihrem Leid zugrunde liegt. Sein pädagogisches Motto lautet: „Wir müssen unseren Schülern helfen, sich selbst zu erkennen und ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden“ (ebd., 67). Dies soll nicht nur für die Schule gelten, wo Gemeinschaft durch die reformpädagogische Verbrüderung von Lehrern und Schülern hergestellt werden soll, weshalb Fritz-Schubert mit einem ganzen Arsenal von gruppen- und erlebnispädagogischen Maßnahmen aufwartet. Wenn er seinen Schülern als Lernziel abverlangt, dass sie „Freude am tugendhaften Handeln besonders im Hinblick auf die Gemeinschaft“ (ebd., 76) entwickeln, und ihm dabei „Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit und der höfliche Umgang miteinander“ (ebd., 67) vorschweben, geht es in erster Linie nicht um störungslos verlaufenden Unterricht. Er will seine Zöglinge vielmehr zum selbstlosen Dienst verpflichten, aus dem sie Sinn und Freude zu schöpfen haben. Sie sollen „erfahren, wie Geben und Hilfsbereitschaft in der Gemeinschaft unabdingbare Faktoren für deren Erhaltung darstellen“, und erleben, „wie die Hingabe für andere zu ‚Selbstvergessenheit‘ und persönlichem Wohlbefinden“führt (ebd., 160). Fritz-Schuberts Rezept lautet Glück durch bürgerschaftliches Engagement, weshalb er die Schüler auf das Ehrenamt einschwört und sie am Ende der Unterrichtseinheit Das Ich und die soziale Verantwortung als unbezahlte Praktikanten an die Gemeinde vermittelt: „In den abschließenden zweiwöchigen Praktika, z. B. in Altersheimen, Kliniken und sonstigen sozialen oder gemeinnützigen Einrichtungen, sollen sie die unterschiedlichen Facetten des Lebens und vielleicht auch des Todes erfahren“ (ebd., Hervorhebung K. G.). Hier zeigt sich vollends der autoritäre Charakter der Fritz-Schubertschen Pädagogik, wird doch nicht nur deutlich, wie sehr er seine Schüler als ungestalte, frei verfügbare Masse begreift, die es im Sinne des Allgemeinwohls und damit des Staates zu formen gilt, sondern auch, dass in der von ihm erträumten Glücksgesellschaft der Zugriff auf das Individuum total sein soll. Der Einzelne, der sich spätestens mit seiner Einschulung der Gemeinschaft zu unterwerfen hat, verpflichtet sich ihr bis zu seinem Ableben. (3) So wie die Schüler keine Ruhe vor ihren Lehrern mehr finden sollen, hat auch der Sterbende keinen Anspruch mehr auf Privatsphäre. Selbst das letzte Stündchen im Krankenhaus oder Pflegeheim stellt einen letzten Dienst an der Gemeinschaft dar. Am Sterbebett stehend, sollen Schulklassen die „Facetten des Todes erfahren“ – und vermutlich lernen, dass er zum Leben dazugehört, wie es die zeitgenössischen Ideologen des Sterbens so grässlich formulieren.
Ressource Gemeinschaft
Glücklicherweise wird es auch in absehbarer Zeit noch renitente Jugendliche geben, die keine Lust haben, sich zu „ihrem“ Glück zwingen zu lassen, wobei dahingestellt sei, ob sich ihre Verweigerungshaltung aus individualistischem Aufbegehren oder eher aus pubertärer Belehrungsresistenz speist. Die Wut darüber, dass es noch eigensinnige Schüler gibt, die Besseres zu tun haben als sich seinen autoritären Weltbeglückungsphantasien zu unterwerfen, treibt den Glückslehrer jedenfalls fast in den Wahnsinn. Bei der Suche nach den dafür Verantwortlichen warnt er vor „Erziehungsinstanzen und Einflussfaktoren […], die eigennützige und materielle Absichten verfolgen“ (ebd., 166) und einen „grenzenlosen Konsum- und Vergnügungspark“ (ebd., 82) errichtet hätten. Heldenhaft stellt er sich der„gigantischen Produktions- und Konsumwelle“ (ebd., 81) entgegen und warnt etwa vor der zersetzenden Kraft von Online-Rollenspielen, durch die Jugendliche ihre„körperliche und mentale Stärke“ (ebd., 41) verlören. Der autoritäre Wunsch des kleinen Staatsdieners, einen Beitrag zur Zukunft der Nation zu leisten, kulminiert in der Fahndung nach Verschwörern, die aus Gewinnsucht vitale, kraftstrotzende und clevere Jugendliche in schwächliche Kretins verwandeln. Kämpferisch fordert Fritz-Schubert nicht nur sportliche Angebote mit dem Ziel der „Erhaltung und Förderung der Volksgesundheit“ (ebd., 121), sondern auch eine Auseinandersetzung mit der „Endlosschleife der immer nachwachsenden Bedürfnisse und (mit) denjenigen, die dafür verantwortlich sind, den Kapitalisten“ (ebd., 52), die durch „geschickte Werbung […] gezielt […] neuen ‚Mangel‘ entstehen“ließen (ebd., 53). (4)
Mit dieser Feindbestimmung erweist sich die Glückspädagogik als zeitgenössischer Neuaufguss des volksgemeinschaftlichen Traums von einer Ordnung, deren Verfechter alle Sonderinteressen und damit alle politischen Konflikte neutralisieren und egalitäre Einheit durch die richtige Gesinnung gegen all jene stiften wollen, die ihre Interessen über die der Gemeinschaft stellen. Fritz-Schubert verpflichtet sich damit einem Gemeinschaftsideal, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu unverändert durch den Großteil deutscher Pädagogenköpfe geistert. Geprägt hat es 1887 einer, der heute in Deutschland als Begründer der Soziologie verehrt wird. Es war Ferdinand Tönnies, der in seiner Schrift Gemeinschaft und Gesellschaftdie wärmende und tugendhafte Gemeinschaft zum Gegenpol einer kalten, vom Eigennutz getriebenen Gesellschaft erklärte. Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff gehörte nicht nur zum geistigen Rüstzeug der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts – jener männerbündischen Jugendbewegung, die den nationalromantischen Aufbruch gegen Entfremdung, Zivilisation und Gesellschaft im Namen deutscher Kultur und Gemeinschaft auf ihre Fahnen geschrieben hatte –,er prägte auch die erste Generation der Reformpädagogik, die zu nicht unerheblichen Teilen aus der Jugendbewegung hervorgegangen war und unter dem Label der Alternativpädagogik in den siebziger Jahren eine Renaissance erlebte, die bis heute anhält. Aus diesem Grund lesen sich Fritz-Schuberts pädagogische Anekdoten wie Wandervogel-Erweckungserlebnisse; daher beruft er sich auf die graue Eminenz der zeitgenössischen Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, mit dem er „Schule neu denken“ will. (5)
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