Sunday, April 19, 2015

Großbritannien hat die Wahl: Nur welche?

von Gerrit Liskow
Es ist einigermaße
n ironisch, dass die moderne Demokratie ausgerechnet in ihrem Geburtsland beerdigt werden soll. In ihrem Geburtsland, denn im Gegensatz zu Griechenland kann England mit Fug und Recht behaupten, die Wiege der Demokratie zu sein (Magna Carta, Bill of Rights, Verbot der Sklaverei, Frauenwahlrecht). Denn nur, weil ab und zu, bei besonders passender oder unpassender Gelegenheit, mal abgestimmt wird, ist eine Gesellschaft noch lange nicht demokratisch, liebe BasisdemokratInnen von den Grünen; und noch lange nicht zivilisiert.
Nun ist es so, dass von den einstigen demokratischen Errungenschaften auf den Britischen Inseln in den letzten beiden Generationen nicht mehr viel übrig geblieben ist. Dank der Brüsseler Beamtendiktatur werden die wirklich wichtigen Entscheidungen längst im Ministerrat „abgestimmt“ und dann von einem „Europa“-Parlament abgenickt. Dieses „Parlament“, das nichts zu sagen hat, mit der Krull-Oper zu vergleichen, stellt indes eine gegenseitige Verharmlosung dar; die Krull-Oper wirkte wenigstens nicht über die Grenze des historischen Deutschen Reiches hinaus.
Ein „Europa-Parlament“, dessen Mitgliederliste sich über weite, osteuropäische Strecken wie das Who-is-who der ZKs und Politbüros vergangener Tage liest und dem mit Martin Schulz vom Gewerkschaftsflügel der SPD angemessen vorgesessen wird. Manchmal könnte es einem tatsächlich so vorkommen, als wäre die entwickelte Form des Faschismus eben doch die Sozialdemokratie, aber ich schweife ab. Oder vielleicht greife ich auch vor – wer weiß, liebe Leserinnen und Leser.
Aber nicht allein die ihr durch den EU-Einheitsstaat vorgesetzten Behörden brachten und bringen die einstige Mutter aller Parlamente mit Sitz im Palast zu Westminster in eine existenzielle Krise. Ihre recht ehrenwerten Mitglieder arbeiten selbst fleißig an ihrer Verüberflüssigung: per Devolution, also per Abtreten immer weiter gehender Rechte der Zentralregierung mit Sitz in Downing Street an Regionalparlamente, die ihre Steuer- und Sozialpolitik gerne selbst gestalten und dazu in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer freiere Hand erhalten haben.
Das Devolutions-Spiel wurde letztes Jahr nördlich von Hadrians Wall, in Schottland, bis zu dem Punkt getrieben, an dem die Tartan-Zone fast einen Strich durch jene Union gemacht hätte, die dem United Kingdom einst seinen Namen gab, als James VI von Schottland 1603 zu James I von Großbritannien wurde. (Wir haben das selbstverständlich im Geschichtsunterricht gelernt dank unserer Qualitätspädagogen von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften, nicht wahr, liebe Leserinnen und Leser?) Schließlich musste sich sogar HM The Queen zur Sache äußern und etwas höchst Diplomatisches, vor allem aber völlig Unpolitisches, über das drohende Ende der Union zu Gehör bringen; die royale Sprachregelung war (glaube ich), dass sie persönlich Großbritannien dann aber doch ein wenig trist fände, ohne die Schotten und ihre flimmerigen bunten Röcke.
Wenn man nun noch in Betracht zieht, dass mehr als die Hälfte aller britischen Wahlkreise so „sicher“, also im Wahlergebnis vorhersehbar ist, dass sich in ihnen kaum noch die Wahlforschung lohnt, muss man sich fragen: Warum überhaupt wählen gehen?
Nun ist es so, dass in Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland niemand Angst vor der nächsten Euro-Pleite haben muss. Das vor allem, weil man dort gegenüber jenen Risiken, die die Einheitswährung auf dem Kontinent der Alternativlosigkeit darstellt, relativ gut immunisiert ist: durch etwas, das sich das Britische Pfund Sterling nennt, liebe Kinder. Ebenfalls ist das Vereinigte Königreich dadurch vor den sich aus wirtschaftlichen Problemen regelhaft ergebenden sozialen Konflikten geschützt, wie sie im Krisenregionen wir „Europa“ nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind (Extremismus usw.). Und wenn alles nichts hilft, wird eben der Kanaltunnel dicht gemacht.
Zudem läuft die Wirtschaft im UK. Zwar auf einem Berg von Staatsschulden, gegen den sich der Mount Everest wie ein Fliegenschiss ausnimmt, aber: Sie läuft. Und das nicht nur mehr schlecht als recht, wie in Frankreich oder Germany, sondern sie läuft von allen in den G7 enthaltenen entwickelten Industriestaaten am zweitbesten; mit Wachstumszahlen, die sich der Wirtschaftsflügel der deutschen Sozialdemokratie nicht mal mehr im Traum vorstellen kann (oder darf).
Ferner findet dieses Wirtschaftswachstum nicht bloß auf dem Papier der Amtsstuben statt, sondern es macht sich zunehmend auch im Portemonnaie der Durchschnittsverdiener bemerkbar; durch Steuerentlastungen und sinkende Konsumentenpreise. Mr Cameron, der Premierminister, und seine dem Anspruch nach wirtschaftsfreundliche Tory-Partei, sollten die Allgemeinen Wahlen am 7. Mai 2015 (also fast auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Ende der vorläufig letzten akut faschistischen Episode der EU) mit einem bemerkenswerten Vorsprung gewinnen.
Jedoch: Von der ökonomischen Realität des Jahres 2015 spielt sich seit Wochen und Monaten in jenen „politischen“ Umfragen nichts ab, in denen sich Tories und Labour ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, bei dem sich beide um einen Stimmenanteil von jeweils rund um die 33% streiten (+/- 2%).
Was natürlich auch für die britische Sozialdemokratie nichts Gutes verheißt. Denn nachdem ihr Wahlkampf-Hit aus dem letzten Jahr („Cost of Living Crisis“) sich in wachstumsbedingt in Wohlgefallen aufgelöst hat, bleibt nur der Dauerbrenner NHS – also jenes staatliche Gratis-Gesundheitssystem, das der Labour Frontmann Mr Miliband am liebsten zu jener Knarre machen möchte, die er den Wählerinnen und Wählern an die Schläfe hält, damit sie bei der Labour-Partei ihr Kreuzchen machen; moralische Erpressung funktioniert bei der politischen Klientel der Sozialdemokratie eben immer noch am besten.
Wer sich in Ruhe und auf amüsante Art zu Gemüte führen möchte, was Mr Miliband sich zudem unter erfolgreicher politischer Kommunikationsarbeit vorstellt, dem sei dieses Video aus dem Jahr 2011 ans Herz gelegt. Es ist nebenbei eine unfreiwillige Sternstunde jenes investigativen Qualitätsjournalismus, wie ihn auch der britische Staatsfunk (a.k.a. BBC) betreibt.
Nun ist nach über zwei Generationen Euro-Kommunismus auch Großbritannien dort angelangt, wo die meisten entwickelten Industrienationen sich schon seit langem befinden: Die eine Hälfte der Bevölkerung muss arbeiten gehen, damit die andere Hälfte sich einen schicken Tag machen kann (und für die meisten Mitgliedstaaten der EU würde so eine Eins-zu-Eins-Ratio sogar eine Verbesserung bedeuten).
Die diesen Zahlen zugrunde liegende Statistik geht mit dem Begriff „Arbeit“ übrigens sehr großzügig um, denn nach ihrer Definition sind sogar Staatsdiener mit „Arbeit“ beschäftigt; meine persönliche Erfahrung sieht anders aus, aber das ist vermutlich das Beste, was die meisten der Damen und Herren im öffentlichen Dienst mit ihrer Zeit anfangen können, denn wenn sie tatsächlich arbeiten würden, wären wir noch tiefer im Dreck.
Dass nun ein paar heilige Kühe geschlachtet werden, damit jene zumindest ansatzweise sinnvolle Annäherung an die Wirklichkeit geschieht, wie sie der Ex-BRD Gerhard Schröders Agenda 2010 beschert hat (jene „Hartz“-Reform, ohne die in Germany keiner mehr arbeiten gehen bräuchte, nicht wahr, liebe Gewerkschaftler und Sozialdemokraten?) ist dennoch unwahrscheinlich. Bei gleichzeitig wachsenden Anspruchsniveaus und sinkenden Einnahmen bedeutet es für eine Gesellschaft nicht unbedingt etwas Gutes, wenn sie nur noch aus Egoisten besteht.
Die beiden großen, landesweiten britischen Parteien bedienen ihre relativ fest verfugte politische Klientel mit dem Status Quo am besten. Die Tories senken hier und da mal eine Steuer, die den Mittelstand interessiert (z.B. die Erbschaftssteuer) und Labour macht seiner Kundschaft erfolgreich weiß, dass Geld nicht auf Bäumen wächst – sondern aus dem Geldautomaten kommt. Warum etwas reparieren, das funktioniert?
Die Art und Weise, wie der Status Quo vom etablierten Personal gemanagt wird, hat selbstverständlich auch in Großbritannien eine erstaunliche Vielfalt von Wahlvorschlägen produziert, denen allen gerecht zu werden den Rahmen völlig sprengen würde und die zur Konzentration auf das Wesentliche zwingt; was ja auch durchaus wünschenswert sein kann.
Die Situation in Schottland ist bekannt: Hier will eine Partei, die sich national und sozialistisch wähnt und SNP genannt werden will, gerne gegen den Willen der Mehrheit ihre Vision von einem unabhängigen Schottland durchdrücken: eine Gesellschaft, die sozial immer gerechter wird, weil alle sich aus dem vermeintlich unerschöpflichen Ölschatz in der Nordsee ernähren! Ersatzweise würde die SNP aber auch mit dem Geld anderer Leute vorlieb nehmen, am besten mit dem der bei ihresgleichen so verhassten Steuerzahler aus England.
Selbstverständlich wird die schottische Unabhängigkeit überaus großzügig von der EU gefördert (richtig, auch von Ihren Steuergeldern) und höchstwahrscheinlich kommt bei der schottischen Unabhängigkeit etwas heraus, das latent an Kuba oder das heutige Venezuela erinnert; wo man sich nach dem Zusammenbruch des Ölpreises nicht mal mehr eine Rolle Klopapier leisten kann. Aber wo kämen wir denn hin, wenn die SNP sich nicht zusammen mit der EU um die Entwicklung des neuen Menschen kümmern würde?
Weil die Schotten in ihrer Mehrheit glücklicherweise nicht blöd sind, hat sich längst herumgesprochen, dass „ihr“ schwarzes Gold in absehbarer Zeit zu Ende geht; in sehr absehbarer Zeit sogar, vermutlich in den nächsten zehn Jahren. Nicola Sturgeon, Erster Minister und Lächelmaske der SNP, hinter der sich natürlich Alex Salmond versteckt, hat „ihre“ Partei deshalb zuletzt ökologisch in Form gebracht und verspricht ihren WählerInnen nun vollmundig, dass Windmühlen den „politischen“ Traum vom unabhängigen Schottland finanzieren.
Angesichts der Milliarden, die dank der „Energiewende“ von unten nach oben verteilt werden, zeichnet Miss Sturgeons neue Masche sich immerhin durch Logik aus – selbst wenn ihre Ziele mindestens ebenso wahnsinnig bleiben wie die von Captain Ahab, bzw. Alex Salmond.
Aber auch südlich der Grenze wird „gegrünt“. Von Brighton aus, der von Fahrradfahrern und Fixertreffpunkten gleichermaßen geplagten Bastion der Ökopathen, geht Natalie Bennett für die „Green Party“ an den Start. Zusätzlich zu den üblichen „ökologischen“ Eckpunkten („bedingungsloses Mindesteinkommen“, „Abschaffung der Studiengebühren“, „Einführung der Luxussteuer“) kann man bei Miss Bennett auch noch ein Verbot des Grand National in Aintree gratis hinzu bekommen; letzteres würde für die Fans modischer Kleidung im Pferdesport sicherlich einen nicht wiedergutzumachenden Verlust bedeuten.
Ach ja, und eine Extraportion „Israel-Kritik“ bekommt man bei Miss Bennett auch. Sie ist nämlich, wie sich heute herausgestellt hat, eine ganz besonders „anti-zionistische“ kleine Person, die Bio-Natalie der BDS Bewegung von den „Grünen“. Leider, oder viel mehr zum Glück, hat Miss Bennett, das australische Importprodukt, ihren Transport ins britische Mutterland anscheinend intellektuell nicht unbeschadet überlebt. Es wurde bis jetzt noch jedes Mal unfreiwillig komisch, wenn sie sich zu etwas äußern sollte, das im weitesten Sinne mit Zahlen zu tun hat und die Beherrschung der Grundrechenarten voraussetzt (plus, minus, mal und geteilt, liebe Teenager).
Ein symptomatischer Erfolg uffjeklärter Bildungspolitik und nebenbei vielleicht ein seltener Anlass zur Hoffnung besteht ja darin, dass an den Instituten der GEW tatsächlich so viel praxisuntauglicher Schwachsinn reproduziert wird, dass die etablierte „Politik“ unter ihren inneren Widersprüchen irgendwann zusammenbrechen muss: Weil kein geeignetes Personal mehr verfügbar ist, das den Kurzschluss von Gesellschaftsform und Denkform, ersatzweise aber wenigstens die Grundrechenarten, beherrscht.
Und schließlich wäre da noch eine Partei, die zumindest öffentlich gerne so auftritt, als hätte sie den „guten“ politischen Populismus erfunden und sich deshalb über weite Strecken ihrer Mitgliedsbasis erfolgreich dagegen sträubt, mit solchen Geschmacklosigkeiten wie der ungarischen Jobik Partei, der französischen Front National oder einer alternativdeutschen Professorenpartei in denselben trostlosen Topf geworfen zu werden.
Es fällt schwer, die UK Independence Party zu verstehen, wenn man selbst nicht über jenen Common Sense verfügt, der auf Deutsch nur sehr ungenau, dafür aber umso irreführender, als „Gesunder Menschenverstand“ übersetzt wird; wer „Stammtischwahrheit“ dazu sagt, vergisst oder will darüber hinwegtäuschen, dass etwas nicht allein deshalb zur Lüge wird, weil man es in einer Gastwirtschaft sagt.
Die Programmatik dieser Partei leitet sich aus ihrem Namen ab. Unabhängigkeit setzt politische Freiheit voraus und Freiheit ist vor allem die Möglichkeit, eigene Entscheidungen treffen zu können. Und es sind eben nur dann eigene Entscheidungen, wenn man zu ihrer Verwirklichung nicht auf Geld oder Macht anderer Leute angewiesen ist; letzteres kann man linken Polit-Personen, vor allem aus der  NGO-Szene, offenbar nicht oft genug sagen.
Was an der UKIP-Programmatik nun gut oder schlecht ist, sollte der britische ideelle Gesamtwähler indes bitte selbst entscheiden. Die inhaltliche Bewertung politischer Forderungen bleibt eine akademische Diskussion mit geringer praktischer Relevanz, solange die Bedingung der Möglichkeit von Demokratie nicht grundsätzlich wiederhergestellt ist. Namentlich, solange nicht auch die wirklich wichtigen Dinge wieder von gewählten Abgeordneten in eigener Regie entschieden werden können, und nicht vom Brüsseler ZK der EUdSSR. Dass sich daran nach den Allgemeinen Wahlen am 7. Mai etwas ändert, ist so gut wie aussichtslos, und deshalb teile ich die Anti-UKIP-Hysterie, in die sich die uffjeklärten Milieus derzeit mal wieder zweckdienlich hineinsteigern, nicht wirklich.
Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der derzeitige Amtsinhaber eine Regierungsmehrheit hinter sich versammelt. Nicht zuletzt weil sein derzeitiger Koalitionspartner, die Liberal Demokratische Partei, als Fußnote unter ferner liefen enden wird.
Wahrscheinliches Ergebnis ist eine Labour-Koalition mit den „progressiven“ kleinen Parteien; „progressiv“ in Richtung auf eine fortschreitende, immer „gerechter“ werdende Verteilung der ökologischen, sozialen und nationalen Misere (letztere betrifft vor allem Schottland); frei nach der Churchill-Devise: „Sozialismus ist die gleichmäßige Verteilung des Elends“.
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