Monday, October 24, 2016

Die Fassungslosen

Wenn ein 15- bis 17-jähriger Junge seinem Leben durch einen Sprung aus der fünften Etage eines Plattenbaus ein Ende setzen will und auch tatsächlich in den Tod springt, dann kann man erschrocken innehalten, andächtig schweigen, als gläubiger Mensch ein Gebet sprechen oder auch leise nach den Gründen fragen. Doch der verzweifelte junge Mann war ein somalischer Asylbewerber, der sich nach seinem tragischen Tod am Freitagabend im thüringischen Schmölln auch nicht mehr gegen die Instrumentalisierung seines Selbstmords wehren konnte. Also wurde er am Wochenende zum Objekt billiger Anklagen. Es waren die Klagen gegen jene Deutschen, die keine Zuwanderung wollen und deren Schmöllner Vertreter den armen Jungen in seinen letzten Lebensminuten noch zum Todessprung animiert und angefeuert haben sollen.
Woher diese Nachricht eigentlich genau stammte, war uninteressant, denn es war Wochenende, ein geeigneter Zeitpunkt also, eine veritable Empörungswelle anrollen zu lassen. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, wusste sofort: “Es ist menschenverachtend, dazu aufzurufen.” Es sei unfassbar, wie Verzweifelten und Schutzsuchenden in diesen Zeiten Hass und Verachtung entgegenschlage.[1] Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zeigte sich „fassungslos“. Zweifel daran, dass der Mob den jungen „Flüchtling“ beim Selbstmord anfeuerte, äußerten sie zunächst nicht. Es passte wohl zu gut ins eigene Weltbild, besser jedenfalls als die anderen Fakten, die nicht so gut zur Empörung passen wollten.
Aber warum hätten die Empörten auch zweifeln sollen, wenn doch kein Geringerer als der Schmöllner Bürgermeister Sven Schrade (SPD), der sich ja schon von Amts wegen um den guten Ruf seiner Stadt sorgen muss, das angebliche Treiben seiner Bürger als „verachtenswert, ja unmenschlich“ bewertet hatte, noch bevor sich die Ermittlungsbehörden überhaupt zu dem Fall geäußert hatten. Lieber glaubte das Stadtoberhaupt seinen eigenen Informanten: “Uns liegen auch Informationen vor, dass einige, ich nenne sie mal Schaulustige, diesem Vorfall lange beigewohnt haben, und wohl auch Rufe gefallen sein sollen wie ‘Spring doch’ “, sagte er am Samstag.[2]
Wer will einem Bürgermeister an dieser Stelle nun widersprechen, ohne in den Geruch zu geraten, fremdenfeindlichen und menschenverachtenden Pöbel zu verteidigen? Die unpassenden Fakten zu präsentieren, oblag letztlich der Polizei: “Wir haben dort keine Person brüllen hören oder ähnliches”, sagte ein Sprecher der Landespolizei am Sonntag. Polizei und Feuerwehrleute vor Ort hätten während ihres mehrstündigen Einsatzes keine Rufe gehört und es sei auch kein besonderer Auflauf an Schaulustigen gewesen.[3]
Auch die Quelle des Bürgermeisters wurde von der Polizei gefragt und plötzlich hieß es, sie wisse von jemandem, der sinngemäß gehört haben wolle, dann soll er doch springen. Damit ist diese Nachricht eigentlich nicht mehr als ein Gerücht, nur war der Vorgang nebst allfälliger Empörung nun in der Welt. Insofern kann es auch der Polizeisprecher nicht nur sagen, dass er schon wegen der vielen Konjunktive in der Aussage der Kronzeugin des Bürgermeisters nicht wisse, was tatsächlich gehört und gesagt wurde. Er setzte hinzu, dass er aber auch nicht definitiv ausschließen könne, dass tatsächlich so etwas gefallen sei.
Eine recht fragwürdige Grundlage, um die Schmöllner Nachbarn der Unterkunft des minderjährigen Asylbewerbers öffentlich der Mitschuld am Selbstmord zu zeihen. Mit jeder neuen Information und Aktion wird es zudem immer absurder. Während der Thüringer Ministerpräsident sich nun vor seine Bürger stellt und die Öffentlichkeit vor Vorverurteilungen warnt und der Betreiber der Wohneinrichtung behauptet, die Rufe, für die es keine Zeugen zu geben scheint, hätte es gegeben, auch wenn er sie selbst nicht gehört habe, gibt es eine neue Erklärung: Nachbarn haben angegeben, sie wollten dem jungen Mann auf dem Fenstersims zu verstehen geben, dass er in das unterdessen aufgespannte Sprungtuch der Feuerwehr springen solle. Das allerdings hat er verfehlt.
Niemand weiß, ob der Junge, dessen Alter mal mit 15, mal mit 17 Jahren angegeben wird, überhaupt hätte verstehen können, was ihm zugerufen wurde. Mohammed – so wird er in einem Zeitungsbericht genannt – kam am 31. März dieses Jahres in Deutschland an. Aber um ihn geht es ja auch längst nicht mehr. Die Debatte um die Vorgänge in Schmölln hat sich von dem Umstand, dass hier ein junger Mann sein Leben ausgelöscht hat, weitgehend gelöst. Wir können stattdessen einer zu jedem Anlass gern wiederholten Aufführung der immergleichen Diskussion über fremdenfeindliche Ostdeutsche beiwohnen, die noch etwas mehr Überzeugungsarbeit brauchen. Was solche Aufführungen beim Publikum vor Ort bewirken, wenn sich die konkreten Anschuldigungen nicht belegen lassen, kann man sich eigentlich leicht ausmalen. Es ist ja nicht so, dass es keine Anlässe für eine entsprechende Debatte gäbe, nur dann muss man auch genau diese heranziehen. Stattdessen geben sich Verantwortungsträger immer wieder überrascht davon, wie sich die Bevölkerungsstimmung entwickelt. Da kann man in der Tat einigermaßen fassungslos sein.
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/suizid-eines-fluechtlings-ramelow-entsetzt-ueber-spring-aufrufe-14494248.html
[2] https://www.tag24.de/nachrichten/thueringen-schmoelln-passanten-sollen-fluechtling-zum-suizid-angestachelt-haben-polizei-ermittelt-175435
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/suizid-eine-fluechtlings-polizei-bestreitet-hetzende-stimmung-in-schmoelln/14725442.html?mobile=false
 http://sichtplatz.de/?p=6933

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